Stomachion als Kunstwerk


Aus einem mehr als 2000 Jahre alten griechischen Puzzle entwickelte der Münchner Künstler Michael Haussmann ein Gemälde, das der Betrachter immer wieder selbst verändern kann.


Man sagt, das Schwierigste beim Verfassen eines Textes sei der erste Satz. Jeder, der sich daran schon versucht hat, kennt dieses Dilemma und doch hat sich bis heute kein Wissenschaftler mit der Frage beschäftigt, wieviele Möglichkeiten, einen Text zu beginnen, es überhaupt gibt. Wäre dies geklärt, so der verlockende Gedanke, könnte sich der Autor einfach aus den – sagen wir – zwanzig Möglichkeiten die schönste aussuchen und die halbe Arbeit wäre getan. Der Wissenschaftler, in dessen Zuständigkeit dieses Problem fiele, ist Mathematiker und sein Teilgebiet wird Kombinatorik genannt. Er untersucht auf wieviele Arten bestimmte Objekte ausgewählt oder angeordnet werden können und ermöglicht damit zum Beispiel die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten bei Lotto- und Würfelspielen.

Obwohl sich die Kombinatorik als eigenständige Disziplin erst im Computerzeitalter etablieren konnte, besitzt sie viele berühmte Ahnen und Paten, darunter Blaise Pascal, Gottfried Wilhelm Leibniz und den griechischen Universalgelehrten Archimedes. Letzterem wird auch eine mehr als 2000 Jahre alte Variante von Puzzles und Legespielen zugeschrieben: das Stomachion. Dabei wird eine quadratische Grundfläche mittels eines bestimmten Verfahrens in 14 Teile zerlegt. Die Unterteilung erfolgt nicht beliebig, sondern entlang der Eckpunkte eines Gitternetzes aus 12 x 12 Quadraten, das auf der Grundfläche aufgetragen wurde. Die so entstandenen Drei-, Vier- und Fünfecke können nun auf unterschiedliche Arten wieder zu einem Quadrat kombiniert werden.

Darüber, ob schon Archimedes wußte, wieviele unterschiedliche Legemöglichkeiten sich aus seinem Stomachion ergeben, kann nur spekuliert werden. Die Kombinatorik jedoch hat vor einigen Jahren in diesem Problem eine interessante mathematische Fragestellung erkannt und mit Hilfe des Computers gelöst.

Die Grundfläche jedes Stomachions ist in 14 Teile entlang eines Rasters aus 12 x 12 Quadraten zerlegt.

Bei Beachtung der Symmetrie kann das Stomachionquadrat auf 536 verschiedene Arten aus seinen Einzelteilen zusammengesetzt werden. Wenn jede Drehung und Spiegelung als eigene Variante gezählt wird, ergeben sich sogar mehr als 17000 mögliche Lösungen. Damit reiht sich das Stomachion in eine Vielzahl von Gedulds-, Logik- und Geschicklichkeitsspielen wie dem chinesischen Tangram-Puzzle oder der japanischen Origami-Falttechnik ein.

Unbekannt ist, ob Archimedes bei der Erfindung seines Puzzles mehr wissenschaftliche oder spielerische Ambitionen verfolgte. Der Münchner Künstler Michael Haussmann fügte nun den verschiedenen Interpretationen des uralten Rätsels eine weitere hinzu. Er schuf ein Ölbild und zerlegte es nach dem Stomachion-Verfahren in 14 Teile. So entstand ein Kunstwerk an der Grenze zwischen Gemälde und Relief, das der Betrachter zerlegen und immer wieder anders kombinieren kann. Und da Michael Haussmann auch die Rückseite der Einzelteile bemalt hat, ergeben sich bei seinem Stomachion sogar noch mehr Variationsmöglichkeiten als beim griechischen Original.

Um ein leichtes Umlegen der Einzelteile zu ermöglichen, wurde das 90 x 90 cm große quadratische Gemälde in einem speziell angefertigten Holzrahmen gelagert. Die ebenfalls hölzernen Teile des Werkes sind dabei nicht aus einem einzigen Quadrat geschnitten worden, sondern aus verschiedenen Rechtecken, um Verluste durch den Sägeschnitt zu vermeiden.

Das Werk zeigt einen Schmetterling in schillernd bunten Farben auf hellblauem Hintergrund. Zudem ist der Name des Künstlers und das Entstehungsjahr – „Haussmann 2005“ - über die Einzelteile des Gemäldes verteilt. Die Rückseiten der Drei-, Vier- und Fünfecke sind ebenfalls hellblau bemalt. Auf das Archimedische Stomachion wurde Michael Haussmann vor einigen Jahren durch einen Zeitungsartikel aufmerksam und suchte seitdem nach einem passenden Anlass für eine eigene Umsetzung.

Winfried Tiedge und Michael Haussmann (v.l.) vor dem Stomachion.

Als im Frühjahr 2005 Winfried Tiedge, ein Münchner Unternehmer und langjähriger Freund Haussmanns, nach einem neuen Kunstwerk für seine Büroräume suchte, entstand die Idee, den Schmetterling als Logo von Tiedges Firma TARA Systems in ein Stomachion zu transformieren. Haussmann selbst hatte 1990 das Tagpfauenauge, lat. „Inachis Io“, für das Logo des Münchner Softwarehauses entworfen. Dort symbolisiert der Schmetterling, der sich aus einem Computerchip entwickelt, die Metamorphose, das Wachstum und die farbenfrohe Graphik, die für das Unternehmen charakteristisch ist.

Im Stomachion selbst löst sich Michael Haussmann von dieser Vorlage und gestaltet einen Schmetterling in leuchtenden, fast surreal anmutenden Farben. Seinem Auftraggeber gefiel dabei vor allem die Idee, durch Umlegen der Puzzleteile das Aussehen des Kunstwerkes immer wieder selbst verändern zu können. Diese Vielfalt verbindet das Stomachion sowohl mit gegenständlicher als auch abstrakter Kunst. Um das Spiel mit den Variationen zu erleichtern, hat Haussmann neben dem massiven Original eine detailgetreue verkleinerte Kopie geschaffen, an welchem der Betrachter vorab verschiedene der 536 Kombinationen ausprobieren kann.

Haussmanns Stomachion Legevariante: Frühling

Winfried Tiedge nutzt die Legemöglichkeiten, um durch den Schmetterling als Repräsentant der Natur den Lauf der Jahreszeiten abzubilden. Während im Sommer das vollständige, leuchtend bunte Tagpfauenauge seine Büroräume schmückt, sind im kargen Winter nur Reste des Gemäldes erkennbar, als Bruchstücke der Erinnerung an warme sonnige Tage.

Diese Gestaltungsmöglichkeit, durch die der Betrachter selbst zum Künstler werden kann, macht den besonderen Reiz des Stomachions für Haussmann und Tiedge aus und zeigt, dass Kunst und mathematische Logik eine für beide Seiten bereichernde Verbindung eingehen können.

Steffen Herrmann, 2006