Michael Haussmanns Coptographien


COPTOGRAPHIE (gr. kóptein = schlagen, schneiden, gráphein = zeichnen, schreiben) Französisch: Découpures oder Ombres blanches. Englisch: Cut-outs. Die ersten Hinweise auf diese Arbeiten, die hauptsächlich berühmte Zeitgenossen darstellen, reichen bis in die 1780-er Jahre zurück. Wird weißes Papier vor einer Lichtquelle gehalten, erscheint der helle Karton schwarz, die durchbrochenen Stellen hell. Im Kerzenschein lässt sich je nach Abstand von Licht und Projektionsfläche ein unterschiedlich großes, mehr oder weniger scharfes Bild, ähnlich einem Schattenriss, an die Wand werfen, mit dem wesentlichen Unterschied, dass statt eines undurchsichtigen schwarzen Motivs die Ausschnitte sich in lichten Umrissen zeigen. Mit zunehmender Projektionsdistanz wächst die Unschärfe des Bildrandes und die Gestalten erhalten eine unheimliche Lebendigkeit. (aus: "Ich sehe was, was Du nicht siehst". Sehmaschinen und Bilderwelten. Katalog der Sammlung Werner Nekes im Museum Ludwig, Köln, 2002)

Michael Haussmann, exzellenter Maler hochartifizieller Trompe-l'œil- Kompositionen, beschäftigte sich seit Ende der 1970-er Jahre mit einer vergleichsweise einfachen, handwerklich jedoch recht strapaziösen Wiedergabetechnik – dem Kupferstich. Von den Goldschmieden übernommen entwickelte sich der Kupferstich ab Mitte des 15. Jahrhunderts zu einer eigenen Bildgattung. Das Stechen erfordert eine ruhige Hand und verlangt viel Geduld und Übung. Es lässt ein freies, spontanes Arbeiten nicht zu, daher ist es ausgesprochen selten, dass Künstler und Stecher ein und dieselbe Person sind. Besonders berühmt wurde – das sei hier ausdrücklich erwähnt – Claude Mellan (1598-1688) durch seinen Stich eines Christuskopfs, der aus einer einzigen Spirallinie aufgebaut ist, die auf der Nasenspitze des Dargestellten beginnt. Durch das Auf- und Abschwellen der gestochenen Linie erhielt der Kopf eine eindrucksvolle Plastizität. Seit etwa 1830 trat der Stahlstich seinen Siegeszug an, Kupferstecher wurden ausgesprochen selten. Im 20. Jahrhundert mag hier – wie sollte es anders sein – Pablo Picasso genannt werden, der Mitte der 40-er Jahre eine Reihe von Frauenfiguren in der Technik des Kupferstichs verfertigte.


In seinen Porträts und Exlibris entwickelte Michael Haussmann wiederum eine stichtechnische Perfektion, die ihresgleichen sucht. Wie schon Claude Mellan schaffte auch er es, seine Darstellung aus einer einzigen Linie aufzubauen. Diese schwierige, ein hohes Maß an Disziplin erfordernde Technik des Konturierens führte – in einer Art Ideensprung – bei Haussmann dazu, sich nicht mehr des Stichels zu bedienen, sondern – in Erinnerung an Scherenschnitte – den Schritt ins Räumliche zu wagen und die Platten auszusägen. Die gleichen Kupferplatten nämlich, die er vorher zum Stechen nutzte - Platten von 1 mm Stärke –, nimmt er nun her, um Porträts mit der Säge zu konturieren. Damit er im Innenbereich der Platte beginnen kann, bohrt er ein Loch ins Metall, durch das er das extrem schmale Blatt der Laubsäge führt. Nach Abschluss des Sägeprozesses wird der Kontur des Dargestellten entgratet und geschliffen. Daraufhin lässt Haussmann die Platte mit einer Silberauflage galvanisieren, die er abschließend – da sie matt aus dem Galvanobad kommt – manuell auf Hochglanz poliert.


Wenn nun diese „Sägeschnitte" – die wie Negative wirken – vor eine Lichtquelle gestellt werden, ist – z.B. auf einer Wand – ein Schatten zu sehen, der auf verblüffende Weise den Eindruck eines Schwarzweiß-Abzugs von einem Fotonegativ hervorruft.


Auf der Suche nach einer Bezeichnung für diese Art von Porträtdarstellung stieß Haussmann über den Katalog „Ich sehe was, was Du nicht siehst" zu den Sehmaschinen und Bilderwelten der Sammlung Werner Nekes in Köln auf die Autorin Barbara Krafft, die in ihrem Aufsatz „Bilder verstecken – Bilder entdecken" den Begriff der Coptographie anwendet. Im Kapitel „Die Verschwörung der Schatten" führt sie aus:

"Eine Schattenbildtechnik, deren Wirkung der Lithophanie verwandt ist, scheint um 1800 im Gefolge der Silhouettenkultur aus Frankreich oder Holland gekommen zu sein. Die Darstellung von vorzugsweise Portraits und Charakterköpfen wird aus hellem Papier so ausgeschnitten, dass die Lichter weggenommen werden, während die Schattenpartien stehen bleiben. In der Hand betrachtet ist ihr Sinn versteckt und unverständlich; mit einer Kerze auf eine weiße Fläche projiziert, haben diese ‚Lichtobjekte' gleich mehrere erstaunliche Eigenschaften: durch ihre Hell-Dunkel-Vertau-schung benützen sie den Negativ-Effekt lange vor dessen Anwendung in der Photographie; durch die weich modellierenden Halbschatten entlang der Binnenschnitte erzielen sie eine fast dreidimensionale Wirkung; im Flackern des Lichtes und durch die Bewegung der Hand rühren sie auch noch an die Grenze zur Animation: man glaubt Augen zwinkern und Münder sprechen zu sehen.

Die frühesten datierten Exemplare (1818) sind im Nachlass des Elsässer Pädagogen Oberlin. Um 1820 kamen fünf Serien nach französischer Vorlage in Wien heraus, Radierungen zum Selbstausschneiden mit dem Titel "Coptographische Unterhaltungen / Amusements coptographiques". Dieses gelehrte Kunstwort leitet sich vom griechischen ‚kóptein' (schlagen, schneiden) und ‚gráphein' (zeichnen, schreiben) her. Die beiliegende Erläuterung betont, dass diese "Ausdrucks- und Phantasie-Köpfe ... beyläufig die Wirkung einer gewischten Zeichnung nach Gyps-Modellen, die bey Lampenschein gemacht ist, hervorbringen."


Der Begriff ist so selten, dass man in der Suchmaschine „Google" nur zwei Treffer hat: den „Macher" von Coptographien – Michael Haussmann – und deren Sammler, Werner Nekes. Haussmann hat zur Zeit Adorno, Borgès, Wittgenstein, Einstein, Benn und Thomas Mann im Angebot. Aber auch Sie als Interessentin oder als Interessent können sich coptographisch darstellen lassen!

Jochen Kronjäger