Bilder von Michael Haussmann - Eine Einführung von Jochen Kronjäger


Michael Haussmanns Position ist die eines Künstlers, der zwischen seinem ausgeprägten Intellekt und der vielschichtigen Verrätselung seiner Bilder sowie entschiedener Emotionalität pendelt, wobei diese wesentlich in eigenem biographischen Erleben gründet. Seine Emotionalität spiegelt Einfühlungsvermögen, ja sogar Zärtlichkeit, ebenso wie Verletztheit, ja sogar Haß. Darüber hinaus beziehen sich seine intellektuellen Ambitionen und sein persönliches Engagement gleichermaßen auf literarisch-künstlerische Inhalte, historische und lebende darunter viele befreundete - Personen sowie gesellschaftliche Situationen. Aber niemals würde Haussmann bei seinen Thematisierungen vordergründig politisch oder ideologisch agieren, sondern stets distanziert-ironisch, hintergründig, gelegentlich sogar bitter-böse. So ist z.B. das Gemälde Der Schuh des Monsieur Braille eine unübersehbare Attacke gegen die Arroganz der Sehenden: Homo homini lupus.


BILDER VON MICHAEL HAUSSMANN - Eine Einführung von Jochen Kronjäger

Als Gustav Friedrich Hartlaub, damaliger Direktor der Städtischen Kunsthalle Mannheim, 1923 eine Ausstellung zu den sich deutlich manifestierenden Tendenzen eines neuen Realismus als rationale Reaktion auf die emotionalen, psychischen, ja sogar psychotischen Grundlagen des Expressionismus plante, stieß er erst einmal auf Ablehnung. Von ihm befragte Museumskollegen, Galeristen und Künstler reagierten missgestimmt oder gar nicht. Zwei Jahre später führte die gleiche Umfrage zu einem überwältigenden Erfolg: Sie mündete Mitte Juni 1925 in eine Ausstellung, die unter dem Titel Neue Sachlichkeit" einer ganzen Kunstrichtung den Namen gab. Dabei hatte Hartlaub, weil er für diese neuen realistischen Tendenzen in der Kunst keine übergreifende Stilbezeichnung finden konnte, in seiner Not einen Begriff aus der Architektur übernommen, der 1919 - unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstanden war.

Die Neue Sachlichkeit umfasste alle Realismen, die zu jener Zeit en vogue waren, so z.B. George Grosz und Otto Dix mit ihren sarkastischen, aber auch psychoanalytischen Übertreibungen, Franz Radziwill mit seiner oft düsteren, Katastrophen ankündigenden Bildmagie, Alexander Kanoldt mit seinen am Kubismus orientierten, streng architektonisch gebauten Bildern, Christian Schad mit einem kühlen, klinisch-ästhetischen Menschenbild und nicht zuletzt Franz Lenk mit durchaus fotorealistischen Stilleben.

Der Realismus ist eine stets wiederkehrende Richtung in der Geschichte der Kunst. Schon in der Antike galt es als Qualitätsbeweis, wenn Vögel nach gemalten Trauben pickten oder sogar ein geschulter Betrachter einen gemalten Vorhang beiseite schieben wollte. Konsequenterweise war die Vollendung der Malerei im objektiven" Realismus auch der große Gedanke insbesondere der Hochrenaissance.

Dazu schreibt Klaus Fußmann in einem Katalogbeitrag: Tatsächlich gab es in Europa lange Zeit die Hoffnung, eines Tages die Malerei zur Wissenschaft zu erheben. An diesem Ideal haben alle - von Uccello über Dürer und Leonardo bis hin zu Rosso Fiorentino [1494-1540] - gearbeitet; Raffael gab sich sogar der Gewissheit hin, er habe so viele Normen geschaffen, dass danach jeder seiner Schüler jederzeit ein anständiges Bild malen könne. Ein Bild sollte eine objektive, wissenschaftliche Wiedergabe der Realität sein und - wissenschaftlich gedacht - jederzeit wiederholbar sein. Ob es nun um die Zentralperspektive, die wirkungsvollste Schattierung oder die Proportionen des menschlichen Körpers ging, das Ziel war immer das richtige Maß und eine absolut richtige Abbildung der Realität. Davon waren sie alle besessen, und Rosso Fiorentino verfiel in Depressionen, als er sich eingestehen musste, wie unerreichbar das war. " (Die Realität, in: Ausst.-Kat. zur 1. Realismus-Triennale. Künstlersonderbund in Deu tschland. Martin-Gropius-Bau Berlin, 6.2.-21.3.1993.)

Der Realismus sollte in den folgenden vier Jahrhunderten das tragende Element der Kunst bleiben, hervorgehoben sei hier als zwei Generationen später folgender Höhepunkt die holländische Stillebenmalerei: Ziel der Kunst sollte immer sein, das Auge mittels Zeichnung und Farbe zu täuschen" so der Rembrandt-Schüler Samuel van Hoogstraeten (1627-1678). Ein Zeitgenosse van Hoogstraetens war der Maler, Kupferstecher und Künstlerbiograph Joachim von Sandrart, der nicht nur als Schüler des Malers Gerard van Honthorst mit der holländischen Malerei in Berührung kam, sondern auch insbesondere während seiner Amsterdamer Zeit 1637 bis 1644. In dessen Tradition der Kunstbetrachtung, vor allem aber in jener der Malerei des von Sandrart beschriebenen Straßburger Stillebenmalers Sebastian Stoskopff (1597-1657) sieht sich Michael Haussmann.

Bezüglich Realismen in der Kunst können wir weiterhin auf die Trompe-loeil-Malerei in Barock und Klassizismus verweisen, ferner auf die Realismen des Biedermeier, der Haager Schule, der eingangs erwähnten Neuen Sachlichkeit, der Nouveaux Réalistes Anfang der 60er Jahre sowie der Foto- und Hyperrealisten der amerikanischen Pop-Art. Es ist wahrhaftig unverständlich und aus kunsthistorischer Sicht keineswegs nachvollziehbar, dass ausgerechnet diese Kunstrichtung derartig verpönt ist vermutlich einfach auf Grund der Tatsache, dass sie vertraut" ist und nur ganz wenig Ideologie transportiert, dafür aber um so mehr Anregungen und Sehhilfen zum Wahrnehmen und Nachdenken.

Michael Haussmann ist erst seit Anfang der 70er Jahre bekennender Realist. Und ein intellektueller zudem. Er hat sich nach ausgeprägten abstrakten bzw. informellen Malphasen intensiv mit der realistischen Kunst und ihren Möglichkeiten beschäftigt, dabei - wie ihm zutiefst zueigen - auch mit der jeweiligen Literatur zu dieser Kunstrichtung. Denn Haussmann changiert leidenschaftlich zwischen realer und virtueller Welt, zwischen dem Ist und der Fiktion, zwischen dem Ich und dem Anderen.

Die Bilder der 70er Jahre waren klassisch zweidimensional, stark beeinflusst von der außerordentlich zeichnerischen Begabung des Künstlers, insbesondere der Kunst des Kupferstechens. Im Laufe dieses Jahrzehnts entstehen zudem erste skulpturale Arbeiten, meist handgeschnitzt, die einen enormen Sprung auslösen: Vom zeichnerischen Entwurf dieser Skulpturen über ihre manuelle Ausführung entwickelt Haussmann ein subtiles Gefühl für Räumlichkeit - korrekter: für Raumschichtungen -, das er fortan in seine Malerei re-investiert. Der überwiegende Teil der hier anschließend auf der CD-ROM präsentierten Gemälde sind unter diesem Einfluss seit Anfang der 80er Jahre entstanden. Für mich ganz persönlich, der ich ihn seit 1956 kenne, möchte ich 4 Gemälde auswählen, um deren Ideenreichtum über die Persönlichkeitsstruktur des Künstlers Michael Haussmann näher zu erläutern.

1. Die Puppe, 1982
Die Puppe - nackt bis auf gehäkelte Schühchen, den Betrachter an jedem Standort fixierend - liegt auf dem Deckel eines geschlossenen Flügels und damit im rechten Winkel zwischen Deckel und oberem Teil des Flügelkörpers. Sie spiegelt sich in beiden und damit entsteht eine eminent Realistische", d.h. plastisch-räumliche, also dreidimensionale Wirkung. Haussmann entspricht dieser Wirkung zusätzlich durch seine Signatur am Deckelrand unterhalb des rechten Puppenfußes: Sie spiegelt sich kopfstehend und seitenverkehrt im unteren Teil des Flügelkörpers. Mit diesem Gemälde eröffnet Michael Haussmann in seinem Oeuvre ein neues Kapitel das der scheinbar emotionslos wirkenden, akribischen Stilleben, die jedoch durch die verwendeten Sujets etwas Geheimnisvoll - Magisches mitteilen, das durchaus im persönlichen Bereich des Künstlers zu wurzeln vermag.

2. Der blaue Reiter, 1993
Das Ölbild, eine Huldigung an die Münchner Malergruppe gleichen Namens, ist eigentlich am ehesten eine persönliche Widmung an den russischen Juristen und Maler-Autodidakten Wassily Kandinsky: zum einen an dessen intellektuell - musisches Potential, zum anderen an seinen damaligen Wohnort Murnau in Oberbayern. Haussmann läßt sein Bild rhythmisch zwischen zwei Ebenen hin- und herspringen, zwischen einer blau strukturierten Grundfläche und dem aufgelegten Raster eines bruchstückhaft zusammengesetzten Puzzles. Das Puzzle spart etwa in der Mitte einen Reiter zu Pferde aus und gibt zugleich in den Farben grün, gelb-orange und violett eine Landschaft wieder, die an das Murnauer Moos erinnert. Diesen beiden Ebenen, die von der klassischen Horizontlinie aus konzipiert sind - wobei die Landschaft zusätzlich perspektivisch angelegt ist -, wird eine dritte Ebene - die der Drauf-sicht - appliziert: Auf das Puzzle aufgelegt hat Michael Haussmann drei Farbnäpfe mit den Grundfarben rot, blau und gelb, die deutlich ihre Komplementärfarben in der Landschaft kontrapunktieren. Dieses Gemälde belegt nicht nur die ausgesprochen intellektuell-spielerische Lust des Künstlers, sondern auch die Fähigkeit zu deren Umsetzung in überzeugender, eigenwillig abstrakter Trompe-loeil-Technik.

3. Der Ursprung des Kunstwerkes, 1996
Das Acrylbild ist ein reines Vexierspiel und kann lustvoll um zahlreiche Ecken interpretiert werden, zum Beispiel: Es gibt eine Verbindung zwischen dem Text Heideggers über van Goghs Gemälde Ein Paar Schuhe" zu eben dem Schuh wie auch zu dem Spiegelbild im Teller, denn van Gogh fertigte seine Selbstbildnisse vorzugsweise vor dem Spiegel. Es gibt eine Verbindungslinie zwischen dem billigen Büchlein, das keinen Verlag aufweist [Reclam], dem teuren Schuh mit einem Logo ohne wirkliche Identifizierung [Bally] und dem Teller mit einem schemenhaften, scheinbar anonymen Spiegelbild. Es gibt eine Verbindung zwischen Martin Heidegger = MH = Michael Haussmann, dem Namenszug unter dem Logo im Schuh sowie zum Teller: Das in ihm fokussierte Spiegelbild ist - nach Art manieristischer Tondi - ein Konterfei des Künstlers. In diesem Gemälde verknüpft Haussmann nicht verschiedene räumliche Ebenen, sondern verschiedene Bedeutungsebenen zu einem malerischen Ensemble. Gleichermaßen angelegt, aber noch abstrakter ist das Bild.

4. Der Schuh des Monsieur Braille, 1998
Die Bereitschaft, die intellektuellen Strapazen für den Betrachter zu erhöhen, verbindet der Künstler jedoch jederzeit mit Lösungshilfen, hier mit Monsieur Braille". Louis Braille (1809-1852) ist der Erfinder der Blindenschrift, die es den Blinden ermöglicht, mit den Fingerkuppen halbkugelartig in Papier geprägte rasterförmige Anordnugen als Buchstaben zu identifizieren. Michael Haussmann gibt nun in labil auf rotem Grund arrangierten Kugeln das Wort Schuh" der Braille-Schrift wieder. Nur der Sehende, der die Braille-Schrift kennt, könnte diese Anordnung der Kugeln, die lediglich plastisch gemalt ist, als Schuh" entziffern. Wobei die gelbe unter den schwarzen Kugeln (der Schuh ist außen schwarz) einen ironischen Zusatzhinweis beinhaltet: Der Schuh ist innen gelb.
Haussmann geht konsequent einen weiteren Schritt über das Bisherige hinaus: In den Kugeln spiegelt sich in Fischaugenmanier - also nach Art manieristischer Bilder, die Interieurs wiedergeben -, immer wieder derselbe Innenraum. Die Kugeln werden somit zum Inneren des Augapfels eines sehenden Menschen.